Wenn ein geliebter Mensch verstirbt, ist es völlig normal, dass wir um ihn trauern. Wir nehmen Abschied, denken in liebevoller Erinnerung an den Verstorbenen und verbergen vor unserem Umfeld nicht, dass wir trauern.
Warum spüren viele Frauen nach einer Fehlgeburt – einer völlig unerwarteten und oftmals lebensverändernden Situation – eine große Unsicherheit, ob sie um ihr ungeborenes Baby trauern dürfen?
- Tabuthema Fehlgeburt: Über Fehlgeburten wird nach wie vor nur selten gesprochen. Anders als bei Totgeburten werden Fehlgeburten nicht standardmäßig erfasst und es gibt eine hohe Dunkelziffer. In der Öffentlichkeit, in der Politik und in Schulen wird nur selten über dieses Thema gesprochen. Dies führt dazu, dass betroffene Frauen nicht wissen, wie „man“ mit dieser unbekannten Situation umgeht. Da nur selten über Fehlgeburten gesprochen wird, scheint wohl zu gelten: „Weitermachen, als wäre nichts gewesen.“
- Reaktionen des Umfelds: Unbedachte und wenig einfühlsame Sätze aus dem Familien- und Freundeskreis wie z.B. „Es war doch noch so klein, kein richtiges Kind.“ vermitteln den Eindruck, dass nichts schlimmes passiert ist, um das man trauern müsste. Trauer nach Fehlgeburt scheint nicht angemessen zu sein. Schließlich gab es aus Sicht Außenstehender „nichts“ bzw. „niemanden“, um den es sich zu trauern lohne.
In diesem Artikel möchte ich Dir ans Herz legen, Dir Zeit und Raum für Deine Trauer zu nehmen. Ich habe dies nach meiner ersten Fehlgeburt nicht getan, weil ich – wie gerade beschrieben – unsicher war, wie ich mich in dieser Situation verhalten soll. Ich habe weiter funktioniert.
Du darfst um Dein Baby trauern
Ganz gleich ob Du eine Fehlgeburt oder eine Totgeburt erlebt hast: Es war Dein Kind, das gestorben ist. Die Schwangerschaftswoche, in der Du Dein Kind verloren hast, spielt dabei keine Rolle. Entscheidend ist die Bindung, die zu Deinem Baby aufgebaut hast. Und die kann in der 9. Schwangerschaftswoche genauso stark sein wie in der 26. Schwangerschaftswoche.
Vielleicht nimmst Du die Gefühle, die nach der Fehlgeburt in Dir hochsteigen, nicht gleich als Ausdruck von Trauer wahr. Nimm Dir daher Zeit, in Dich hineinzuhören, was Dich beschäftigt, was Du fühlst und denkst. Und wenn Du in Dir das tiefe Bedürfnis verspürst, um Dein Baby trauern zu wollen, dann tu es! Denn verdrängte Trauer lässt uns nie wirklich los. Unverarbeitete Trauerholt uns früher oder später wieder ein.
Deine Trauer gehört genauso zu Deinem Leben wie all die anderen Emotionen, die Du erlebst. Und niemand hat das Recht, Dich von der Trauer um Dein Baby abzuhalten. Wie wichtig es ist, Deiner Trauer Raum und Zeit zu geben, zeigen seit jeher diverse Trauermodelle.
Was ist Trauer?
Trauer dient dazu, Verluste zu verarbeiten, sei es der Tod eines geliebten Menschen, das Ende einer Beziehung oder der Verlust einer Lebensgrundlage. Doch obwohl Trauer eine gemeinsame menschliche Erfahrung ist, erleben und bewältigen wir sie auf sehr unterschiedliche Weise.
Die Art und Weise, wie wir Trauer erleben, wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst: Unserer Beziehung zu der verlorenen Person, unsere persönlichen Eigenschaften und die Unterstützung, die wir von anderen erhalten. Trauer ein komplexes und individuelles Phänomen ist, und so gibt es eine Vielfalt an Trauerreaktionen . Sie betrifft gleichermaßen die emotionale und kognitive Ebene sowie Verhaltensmuster und Körperreaktionen.

Klassische Trauermodelle
Trauermodelle helfen dabei, zu verstehen, wie wir Menschen trauern. Natürlich trauert jeder Mensch auf seine eigene Art und Weise. Dennoch können die Modelle als Struktur dienen, um verschiedene Emotionen zu erklären, die wir Menschen während unserer Trauer erleben. Sie können helfen, die eigenen Gefühle und Gedanken zu sortieren und besser zu verstehen.
Im Folgenden erläutere ich Dir kurz drei der bekanntesten klassischen Trauermodelle: Die Modelle von Elisabeth Kübler-Ross, Verena Kast und George A. Bonanno.
1. Das Fünf-Phasen-Modell nach Elisabeth Kübler-Ross
Das Fünf-Phasen-Modell von Kübler-Ross beschreibt Fünf Phasen, die trauernde Menschen durchlaufen:
- Verleugnung,
- Wut,
- Verhandeln,
- Depression und
- Akzeptanz.
Diese Phasen werden von jedem Trauernden individuell erlebt. Somit gibt es keine konkrete Reihenfolge der Phasen. Trauernde können eine der Phasen auslassen und gleich zur nächsten übergehen oder eine bereits erlebte Phase erneut durchlaufen.
2. Das Trauerphasen-Modell von Verena Kast
Das Trauerphasen-Modell von Verena Kasts beinhaltet vier Phasen des Trauerprozesses:
- Nicht-Wahrhaben-Wollen: Leugnen des Schocks
- Gefühlschaos: unterdrückte Emotionen kommen hoch
- Langsames Loslösen: Rückkehr ins normale Leben allerdings oft in Gedanken an den Verstorbenen
- Fokus auf das eigene Selbst und die Welt: Eigene Wünsche und Bedürfnisse werden wahrgenommen und erfüllt
Kritik an den Phasenmodellen:
Die Phasenmodelle von Kübler-Ross und Kast – sowie vergleichbare Modelle anderer Autoren – erwecken den Eindruck, dass eine trauernde Person bestimmte Phasen durchläuft, in ihnen verschiedene Emotionen und Gedanken erlebt und die Phasen dann hinter sich lässt. Es wird suggeriert, dass am Ende des Prozesses die Trauer abgeschlossen ist und der zuvor Trauernde sich wieder seinem Leben widmen kann.
Trauerprozesse verlaufen äußerst heterogen und individuell, und Phasenmodelle können diese Vielfalt nur unzureichend erfassen
Jeder Trauernde durchläuft seinen eigenen einzigartigen Weg durch den Trauerprozess, und es ist wichtig, diese Individualität anzuerkennen und zu respektieren. Die Trauer lässt sich nicht allein durch das Durchlaufen gewisser Phasen abschließen. Und die Frage ist auch, ob das tatsächlich das Ziel sein sollte.
Wie können Dir die beiden Phasenmodelle trotz der Kritik helfen?
- Strukturierter Ansatz, um Trauer zu verstehen
- Emotionen sortieren
- Auseinandersetzung mit eigener Trauer
- Werkzeug der Selbstreflektion
- Besseres Verständnis für den eigenen Trauerprozess
- Bewusstsein über verschiedene Emotionen und Gedanken zu bestimmten Zeitpunkten
Ein Modell, das einen anderen Ansatz verfolgt, ist das Wellenmodell von George A. Bonanno.
Das Wellenmodell nach George A. Bonanno
Im Gegensatz zu den Phasenmodellen vertritt George A. Bonanno mit seinem Wellenmodell die Ansicht, dass die Trauer in Wellen kommt, deren Intensität mit der Zeit nachlässt: eine ständige Achterbahn zwischen positiven und schmerzhaften Emotionen. Wann die Wellen kommen und wie hoch sie sind, ist sehr individuell. Menschen, die trauern, erleben
Während sich manche Menschen in Zeiten der Trauer zurückziehen, erleben andere Menschen in derselben Situation Freude und Spaß an ihrem Leben. Wie eingangs erwähnt, sind alle Trauerreaktionen vollkommen normal und richtig. Jeder Mensch trauert auf seine individuelle Weise. Menschen, die sich trotz des erlebten Verlusts freuen und ablenken können, verdrängen nicht das Erlebte, sondern beziehen es aktiv in ihren Alltag mit ein. Mit der nächsten Welle mögen für sie vielleicht zurückziehen oder einem anderen Bedürfnis nachgehen.
"Der Tod beendet das Leben, aber nicht die Liebe."
Dieses wunderschöne Zitat von Roland Kachler in seinem Buch „Meine Trauer wird dich finden“ trifft es für mich am allerbesten. Kachler, der seinen 16-jährigen Sohn nach einem Unfall verlor, beschreibt in seinem Buch einen neuen Ansatz in der Trauerarbeit.
„Die Trauer zeigt, wie sehr wir den Verstorbenen liebten und immer noch lieben. Die Trauer will, dass die Liebe weitergeht.“ (Kachler, 2017)
Ziel der Trauer ist es demnach nicht, möglichst rasch Phasen oder Wellen der Trauer zu durchlaufen und damit klarkommen, dass der geliebte Mensch nicht mehr da ist. Sondern für sich einen Weg zu finden, mit dem Verstorbenen zu leben. „Nicht das Loslassen steht im Zentrum, sondern die Liebe zum Verstorbenen.“ (Kachler, 2017)
Da ich den Ansatz von Roland Kachler so sehr schätze, werde ich diesem einen eigenen Blogartikel widmen. Sobald er fertiggestellt ist, werde ich ihn hier verlinken.
Fazit - Was heißt das für Dich und Deine Trauer?
Trauer ist ein komplexes und facettenreiches Phänomen, das nicht nur schmerzhaft, sondern auch eine Quelle der persönlichen Entwicklung sein kann. Wenn wir akzeptieren, dass jeder Mensch seine Trauer individuell wahrnimmt und auf seine Weise trauert, können wir besser verstehen, wie wir selbst und andere mit Verlust umgehen und welche Unterstützung wir benötigen, um diesen Prozess zu bewältigen.
Deine Trauer zeigt, wie sehr Du Dein Baby liebst. Wie sehr Du es vermisst. Wie sehr Du bedauerst, es nicht in Deinem Bauch wachsen zu sehen.
Finde Deinen Weg, zu trauern: Ob Du weinen magst, schreien oder Dich in Stille zurückziehen. Hör auf Dein Bauchgefühl.
- Es gibt keine festgelegten Phasen oder Wellen im Trauerprozess. Stattdessen erleben wir Kreise, Vorwärts- sowie Rückwärtsbewegungen. Geh Deinen eigenen Weg und lass Deine Gefühle zu.
Du musst Dein Baby nicht loslassen, sondern darfst einen Weg finden, wie Du mit Deinem Baby in liebevoller Erinnerung leben möchtest. Welche Gedanken und Erinnerungen Du bewahren möchtest.
Wenn Dein Umfeld Sätze sagt, wie „Jetzt muss es aber mal gut sein. Du musst auch mal loslassen können.“, dann weißt Du: Nein, das muss ich nicht. Denn ich liebe mein Baby und es lebt in meinem Herzen weiter.
Du musst Deine Trauer nicht möglichst schnell loswerden. Die Wellen der Trauer – ob klein oder groß – können auch nach Monaten oder Jahren wiederkehren. Daran ist nichts verwerfliches.
Sprich mit Deiner Familie und Deinen Freunden über Deine Gefühle. Nur so weiß Dein Umfeld, wie es Dir geht, kann Rücksicht auf Dich nehmen und Dich bestmöglich unterstützen.
Wichtig:
Wenn sich Deine Trauer in Depression, starken Angstzuständen, Panik oder Traumata zeigt, und Deine Lebensqualität beeinflusst, wende Dich vertrauensvoll an einen Psychotherapeuten. Er ist entsprechend ausgebildet und qualifiziert, Dir in dieser Situation bestmöglich zu helfen.